Tango Argentino. Der Tanz der Extreme. Seine fantastische Geschichte
Erzählt von: Nicole Nau
Tango Argentino ist entstanden um die Jahrhundertwende, im Moment der großen Immigration. Auf der einen Seite strömten Europäer ins Land, hauptsächlich Männer, die auf der Flucht vor der Krise in Europa mit dem Schiff nach Südamerika reisen, oder manche gar angeworben für eine neue Arbeit in Argentinien. Sie alle suchen in Argentinien eine neue Zukunft: Italiener, Spanier, Deutsche, Polen, Engländer, Ungarn, Russen stranden im Hafen von La Boca, in den puerto von Buenos Aires. Porteños nennt man die Bewohner der Hafenstadt Buenos Aires deshalb bis heute.
Die Geschichte der Immigranten erzählt anschaulich das Museum MUNITREF Museo de la Inmigración in Buenos Aires. Hier wird ordentlich aufgeräumt mit dem immer wieder abgeschriebenen Märchen der vor Armut flüchtenden Immigranten. Natürlich gab es diese auch, doch eben nicht nur. Argentinien ist ein enorm großes Land. Es galt dieses Land zu bevölkern, und so haben viele Staatsmänner regelrechte Immigrationspläne und die dazugehörigen Gesetze geschaffen, Agenten nach Europa geschickt, um Menschen zur Besiedlung und als Arbeitskräfte anzuwerben. Es wurden Hotels für Imigranten gebaut, in denen sie eine Erstversorgung bekamen, in einer Art Arbeitsamt Arbeit zugeteilt und während sie warteten ausgebildet werden konnten in verschiedenen Fertigkeiten. Sprachlich am Leichtesten war es für die Italiener und Spanier, direkt in Komunikation zu treten. Für alle anderen war der Anfang etwas mühsamer. Schiffe brachten Zuwanderer aller Klassen nach Argentinien. Arm und reich.
Für alle ist der Anfang nicht leicht: ein fremdes Land, die Sprachbarriere, weit weg von der eigenen Familie, denn oft war der erste Besuch ohne die Familie geplant. Diejenigen, die eine Arbeit im Vorfeld planen konnten, kamen nach ersten Aufnahmeformalitäten schnell weiter. Doch alle anderen lebten in Mietskasernen zusammengepfercht, meist konfrontiert mit weitaus größeren Schwierigkeiten als erwartet.
Auf der anderen Seite, vom Landesinnern her, strömen Soldaten, Gauchos und freigewordene Sklaven in die Stadt am Rio de La Plata. Die meisten landen auch zuerst einmal in den Conventillos, den Mietskasernen.
Der Rassismus und die Hierarchie untereinander sind groß. Es geht um das nackte Überleben. Der Frauenmangel tut sein Übriges. Und genau dieser Frauenmangel ist einer der Merkmale des Tango, die Frau als zu eroberndes Wesen, die Göttin im Tanz, kostbar. Etwas das in heutiger Zeit verloren gegangen ist, aber einen der wichtigsten Aspekte im argentinischen Tango darstellt, die Frau zu achten, zu schätzen, zu respektieren.
Das Stadtbild, so kann man sich vorstellen ist ein Schmelztiegel der Kulturen.
Eine gemeinsame Sprache gibt es nicht, Frauen sind rar, die Sehnsucht nach Familie, nach gemeinsamer Sprache, nach der Heimat ist groß. Die vom Land vertriebenen bringen Gesten mit, Worte, das Kreole, eine gewisse Art sich zu kleiden und sich zu geben. Das Argentinische. Schwarze Wurzeln und die Wurzeln der Nativen, in Ritualen und Rhythmus. Man darf nicht vergessen, dass Argentinien noch vor der Einwanderung ein Land der großen Völkermischung ist durch beide wichtige Bewegungen eindringender Völker: zuerst die Engländer, dann die Spanier. Sehr viele verschiedene Rassen und Völker sind hier zu Hause, von den Schwarzen, Arabern, Indianern, Nativen, Europäern bis hin zur Vermischung all dieser Menschengruppen.
Der Vater von Luis, geboren in 1926, trug noch ganz natürlich die Tracht der Gauchos. Die Großmutter von Luis Pereyra war Indianerin des Stammes der Diaguita.
Die Europäer bringen die Zivilisation, Bräuche des alten Kontinentes, Tanz und Musik, Instrumente und ein Kauderwelsch an Sprachen, Schwarzafrikaner den Rhythmus. Eines haben sie alle gemeinsam: es sind heimatlose, vertriebene, arme, auch kriminelle Seelen, die sich hier treffen und zu einem neuen Volk zusammenwachsen. Soldaten mit Militärstiefeln, Ureinwohner mit dem Messer hinter dem Gürtel, Sklaven schwarzafrikanischer Herkunft mit ihrem Gefühl für Rhythmus. Italiener mit den Gesten der Mafia und den Liedern über ihr Land, Spanier und über die Pyrenäen eingewanderte Mauren mit ihren Gitarren und Gewohnheiten ihrer Vorfahren, den von Arabern islamisierten Berberstämmen. Deutsche bringen das Bandoneon mit, das Menuett und den Walzer. All dies und viel mehr vermischt sich auf den Straßen von Buenos Aires zu einer neuen Kultur, dem Tango Argentino. Noch bevor der Tango Argentino als Tanz, Musik und Gesang entsteht, gibt es einen Rhythmus, den wir Milonga nennen. In dieser sehr frühen Milonga singen zwei Payadore (Sänger die frei improvisiert in Versen singen und sich dazu auf der Gitarre begleiten) zu einem monotonem Rhythmus Reime und fordern sich gegenseitig heraus. Auf diese Weise wurden übrigens Nachrichten von Ort zu Ort gebracht. Einer der berühmten Payadore war Gabino Ezeiza, schwarzafrikanischer Herkunft.
Aus diesen „Payadas“ entwickelt sich die Milonga Sureña. Sie ist in der Pampa zu Hause, inmitten der Provinz, in der die Großstadt Buenos Aires liegt. Nach der Milonga Sureña entsteht eine Vorstufe des Tango, die Tangomilonga, dann erst entwickelt sich der Tango selbst und die Milonga de la Ciudad, die Milonga der Stadt. Sowohl die Milonga als auch der Tango Argentino sind urbane Kultur. Sie gehören in die Großstadt und zählen zur Folklore Argentiniens. Buenos Aires ist nur eine der 22 Provinzen Argentiniens. Das Land hat einen unglaublichen Reichtum an Tänzen und Rhythmen. Hierzu zählen der Gato, die Chacarera, die Zamba, Cueca, der Escondido, Cielito, Malambo, Arrunguita, um nur einige beim Namen zu nennen. Viele dieser Tänze werden in der Show „VIDA“ inszeniert.
Wie eng verbunden die Kultur mit den Gegebenheiten des Landes ist, sieht man an dem Beispiel der Boleadoras. Der große Choreograph Santiago Ayala El Chúcaro, intimer Freund von Atahualpa Yupanqui, beide übrigens mit Gesichtszügen die auf ihre indianischer Herkunft zurückzuführen sind, entdeckte in den 40er Jahren die Wurfwaffen als Perkussionsinstrument. Luis Pereyra erlernte diese Kunst bereits als kleiner Junge und ist heute der Einzige, der diese originalen Kugeln perkussiv und im Sinne der originalen Idee schlagen kann. Im Steppen sind die Argentinier sehr kreativ und individuell. Als einziges Volk steppen sie auf allen Seiten des Fußes. Diese Weise „alles anders zu machen“ als der Rest der Welt, lässt sie sehr kreativ werden. Im Tango Argentino ist es das Ineinanderschlingen der Beine, das diesen Tanz von allen anderen Paartänzen der Welt unterscheidet, wie auch das Steppen sich von allen anderen Steppformen unterscheidet durch das „volcar los pies“, das Kippen der Füßen auf Außen- und Innenkante.
Der Tango Argentino ist nur einer von über 200 Tänzen. Doch etwas unterscheidet ihn grundlegend. Er ist die einzige urbane Folklore. Alle Kultur stammt aus dem Busch, den Bergen, den Lehmhütten, dem Urwald.
Doch der Tango Argentino, unser Tango Porteño stammt aus der Großstadt. Aus der Metropole, aus einer schnell wachsenden Hafenstadt. Das macht ihn im Wesen zu etwas ganz anderem.
Was also macht den Tango Argentino so besonders, kürt ihn zum Königstanz?
Wir wissen, er ist sinnlich, fast erotisch. Er ist rebellisch und musikalisch anspruchsvoll. Doch da ist noch mehr.
Hierzu muss man sich die Situation seiner Entstehung anschauen. Es gab in seiner Entstehungszeit einen enormen Frauenmangel. Die wenigen Frauen, die es gab, bewegten sich hauptsächlich im Milieu der Prostitution. Machtvoll sind die diese Frauen, über den Mann, in ihrem höchsten Gut, dem Frau sein. Unabhängig von Alter, Religion und Hautfarbe, sozialem Stand und Herkunft. Tango Argentino schreibt eigene Regeln. Trotz Allem, oder gerade deshalb ist er es, der Mann, der das Sagen hat, die Führungsrolle. Eine hochexplosive Mischung. Zwei Rollen, die unterschiedlicher nicht sein können, aber keine der anderen unterliegt, sondern sie sich in ihrem Anders sein ergänzen zu einem Ganzen. Gleichwertig, aber nicht gleichartig. Der Mann, der den Mann steht, in einer hoffnungslosen Überzahl – einsam und sehnsüchtig. Und die Frauen, die – weil sie so rar sind – das höchste Gut überhaupt sind. Sie tanzt seine Führung und macht ihn erst mit ihrem Frau-sein zu dem, was er am meisten bestrebt zu sein ist: ein Mann. Man möge sagen, ein Tanz der Machos, aber damit liegt man falsch. Denn diese Männer in Argentinien müssen nicht zeigen, daß sie Männer sind, sie sind es einfach. Im Tango Argentino, dem wahren, puren Tango Argentino, der dem Volk gehört, hat Emanzipation nicht die Rollen verwässert. Hier weiß die Frau, daß ihr höchstes Gut ihr Frau-sein ist und bleiben muss. Der Mann führt. Das gehört zu den Spielregeln dazu. Aber die Frau folgt keinesfalls, sondern interpretiert seine Führung. Nun ist es aber nicht so, daß Mann und Frau wie ein Spiegelbild tanzen, sondern er ganz eigene Schrittfolgen hat, und sie ganz ihre, ganz andere.
Er führt, und in ihre Bewegung hinein tanzt er. Die Herausforderung im argentinischen Tango ist der Beinraum, innerhalb einer konstanten Umarmung in den Beinraum des anderen zu tanzen. Dieses Ineinander Greifen der Beine unterscheidet den Tango Argentino von allen anderen Tänzen auf dieser Welt. Es ist nicht die Umarmung, die ihn so besonders macht, denn die Umarmung haben wir bei vielen Tänzen: Denken wir nur an Bolero, Walzer, Schieber. Die große Leidenschaft ist der Dialog der Beine, das Gespräch, das 4 Füße führen, als seien sie weitere Instrumente der Partitur. Sie umschlingen und umhakeln sich in „Gancho“ und „Sacada“, sie malen Achten auf den Boden in „Ochos vorwärts“ und „Ochos rückwärts“, sie schieben den Fuß des Partners in Fußschiebern. Das Repertoire und der Reichtum solch eigenwilliger und tangotpischer Bewegungen ist schier unerschöpflich. Dennoch gibt es nur 9 Elemente, die der pure argentinische Tango kennt.
Wie kommt es also zu dieser Vielfalt? Ganz einfach: argentinischer Tango wird improvisiert. Der Mann führt und sie interpretiert die Führung. Eine Frau muss deshalb keine Schrittfolgen lernen, aber sehr wohl wirklich tanzen lernen. So dass sie alles, was er führt, intuitiv in musikalische Bewegung umsetzen kann. Und auch er muss keine Schrittfolgen lernen, sondern vielmehr eine gute Führung, um über diese alle Elemente des Tango frei und im Moment zu verfügen, sie über Führung produzieren und auslösen zu können und auf diese Weise einen für das Paar und den Moment eigenen Tanz musikalisch zu gestalten. Alles indem über Führung die Elemente seiner Wahl musikalisch frei kombiniert werden.
Die Musik ist sehnsüchtig aber gleichzeitig rebellisch und unglaublich kraftvoll. Sie ist aufgebaut in 4 Teilen: der Melodie A, der Gegenmelodie B, Adagio – oder auch Trio genannt (Trio, weil 3 Instrumente diesen langsamen Teil spielen), und Variación. Die Variación st eine Variante von Noten über den Melodieteil A. Den guten argentinischen Tänzer macht ein gutes Ohr aus, ein hervorragendes Gefühl von Rhythmus und seine wahre Führung. Während er sensibel, gefühlvoll aber absolut klar seine Partnerin in die Musik führt, tanzen seine Beine ganz andere Wege, in den Beinraum der Dame hinein. Mit Synkopen, auf Takt oder Rhythmus, oder ganz der Melodie folgend. Paare, die Tango Argentino wahrhaftig tanzen, sind miteinander hin und weg.
Ein Wort sollten wir noch zu den Instrumenten verlieren. Gitarre, Querflöte waren die ersten Instrumente, die um den Wechsel von 1800 nach 1900 gespielt wurden. Dann, mit der Immigration, gelangten andere Instrumente aus Europa nach Buenos Aires: das Bandoneón. Ursprünglich stammt es aus Carlsfeld im Erzgebirge. Diese Instrumente wurden zum Beispiel von einem Herrn Heinrich Band vertrieben und in Südamerika verkauft. Dieser Handelsreisende gab dem Instrument schließlich auch den Namen. Zuerst genutzt in den Folklorerhythmen, zum Beispiel auch dem Chamame, gelangte das Bandoneón auch nach Buenos Aires. Heute ist es das wichtigste Instrument im argentinischen Tango. Es hat einen unverwechselbaren Klang.
Wie kommt nun dieser so exotische Tanz nach Europa?
Ein erstes Mal befällt das Tangofieber Europa, als erste Musiker aus Argentinien nach Paris reisen. Dies geschieht in den 20er Jahren. Ganz Paris ist fasziniert von der Tangomode. Dieser Boom in Paris schlägt als Welle zurück nach Buenos Aires, und erstmals kann der argentinische Tango sich aus der Unterwelt und dem unteren Milieu in die feinere Gesellschaft begeben. Er wird salonfähig. In den 40er Jahren erlebt er seine absolute Hochzeit. Große Orchester spielen für das tanzende Volk: Carlos die Sarli, Juan D’Arienzo, Osvaldo Pugliese, Anibal Troilo, etc. In den 50er bis 70er Jahren entsteht eine wundervolle kraftvolle etwas modernere Musik: Mariano Mores, Leopoldo Federico, Francini Pontier, Sexteto Mayor, Raum Garello. Da man aber immer nur von den goldenen 40er Jahren liest, sind diese Orchester kaum bekannt geworden.
Danach gibt es eine Krise.
Oft wird dafür die Militärdiktatur verantwortlich gemacht. Aber da nur der argentinische Tango darunter litt, nicht aber die argentinische Folklore, ist es sehr zu bezweifeln, dass eine Diktatur ausreichen könnte, den argentinischen Tango fast auszurotten. Vielmehr scheint die internationale Bewegung verantwortlich zu sein: amerikanische Rock und Pop Musik, die den Tango aus den Radiostationen verbannt. Nur Astor Piazzolla macht einen ruhmreichen Weg mit seinem Tango Nuevo, jedoch im Ausland. In Argentinien ist er dafür hart kritisiert worden. Eine Akzeptanz hat er zu Lebzeiten im eigenen Land nicht erfahren können. International ist das ganz anders, dort ist seine Musik in den Philharmonien aufgenommen worden. Dann, zu Beginn der 80er Jahre geht eine Show auf Tournee, die die Geschichte des argentinischen Tango vollkommen neu schreiben wird: „Tango Argentino“, die legendäre Show von Hector Orezzolli und Claudio Segovia.
Weltweiter Boom
Weltweit tritt sie einen Boom los, der weltweites Interesse auslöst und auch gleichzeitig das Land Argentinien in den Mittelpunkt stellt. Sogar Lady Diana ergreift das Tangofieber und sie nimmt Tanzstunde bei Luis Pereyra, zusammen mit Prince Charles. Und Robin Williams schaut sich diese Show an.
Die Nachfrage nach argentinischem Tango wächst
Eine Nachfrage die kaum bedient werden kann, denn argentinischer Tango war fast ausgestorben. Nur wenige beherrschen die Wurzeln, das Volk selber hat seinen argentinischen Tango nicht lebendig gehalten, eine große Welle schwappt aus der Welt zurück nach Argentinien. Globalisierung bringt neue Aspekte, aber der Kommerz raubt die Kultur fast aus, wie in einem Schlussverkauf, wenn es darum geht aus allem noch schnell Geld zu machen.
Haben wir Ihr Interesse geweckt? Möchten Sie diesen Tanz aller Tänze kennen lernen?
Nicole Nau & Luis Pereyra veranstalten Reisen in Argentinien und geben Seminare in Europa. Anfragen für Tango Seminare: nicole@vida.show
Zum Einlesen, zum Üben und zum Lernen empfehlen wir folgendes Material:
Quellen (Fotos und Texte):
- Nicole Nau und Luis Pereyra
- http://mas-historia.blogspot.com.ar/2011/06/la-sociedad-hispanoamericana.html
- Zara Gayk
- Martin Brand
- Sebastian Balnik
- Rainer Musholt
- Arndt Gockisch